Auf dem Weg zum Osterfeuer unterhielt ich mich mit Herrn S. auch über das Thema Koma-Saufen bei Jugendlichen und Kindern. Die Zahl der Minderjährigen, die mit hohem Alkoholspiegel in die Krankenhäuser eingeliefert werden, steigt weiter an.
Ein Kollege meinte die Tage, er hätte sich als Jugendlicher auch die Kante gegeben, aber das ging „nur“ bis zum Erbrechen, dann war Schluss. Koma-Saufen kannte man nicht, wäre wohl auch kein Ziel gewesen. Stellt sich die Frage, warum Jugendliche und Kinder heutzutage zu so einem Extremkonsum von Alkohol greifen? „Damals“ war die Intention zum Trinkgelage „Spaß“, oder vielleicht auch eine Art Mutprobe. Dahinter steckte jedoch immer das Austesten von Grenzen: „Wie weit kann ich gehen?“
Die heutige Jugend stellt sich, so Herr S., diese Frage auch. Natürlich. Allerdings kennen sie keine Grenzen. Ihnen werden keine mehr aufgezeigt. Als Beispiel brachte er an, dass in seiner Jugend sich kein Heranwachsender es erlaubt hätte, im Bus die Füße auf die Sitze zu legen. Und wenn er es doch austestete, konnte er sich sicher sein, dass es eine Hand voll Erwachsener gab, die ihm den Marsch geblasen haben. Heutzutage regt sich niemand darüber auf, wenn ein junger Mensch seine Füße auf die Sitze legt und dabei laut scheppernd Musik aus dem Mobiltelefon hört. Alle schauen verschämt weg. Woran liegt das? — Angst. Die ältere Generation scheint Angst vor der jüngeren zu haben. Zu schnell liegen die Nerven bei den Jungen blank, kippt die Situation in Aggression um. Also wird geschwiegen.
Die Jugendlichen nehmen sich immer mehr heraus, weil sie keine Grenzen aufgewiesen bekommen. Kinder und Jugendliche benötigen aber Grenzen! Jeder kennt es, dass ein kleines Kind etwas macht und macht, um zu testen, wie weit es gehen kann. Das ist so drin in unserer Natur. Aber wie es scheint, wird von den heutigen Eltern zu selten Nein gesagt. Denn eines wollen wir festhalten: die Schuld am enthemmten Verhalten der Kinder und Jugendlichen soll man bitte nicht wieder — weil es so bequem ist — an die Schulen abwälzen. Die Eltern sind die ersten Bezugspersonen für Kinder.
Kampf zwischen Alt und Jung
Als das oben angesprochene Feuer anfing weniger hoch zu brennen, traten wir den Rückzug an. Zuerst mussten wir uns am Strand zwischen Lagerfeuern durchkämpfen. Die kleine Strecke auf der Straße Övelgönne wurde zur Mutprobe. Enorme Menschenmengen strömten mit Sack und pack gen Strand. Gleichzeitig wollte eine mindestens ebenso große Masse vom Strand fort. Zwei riesige, behäbige Schlangen schoben sich aneinander vorbei. Zwischendurch kam es immer zu Totalstopps.
Da passierte es, direkt vor mir: Ein Herr aus der „Silberfraktion“ kuschte nicht vor einem Jungen, sondern zeigte Zähne. Mein Held des Abends!
Die Schlange vom Strand fort stand gerade still, als sie sich auch schon wieder in Gang setzte. Ein älterer Herr vor mir rempelte einen Jungspund an, der zum Strand wollte. Hey, am Rand der beiden sich berührenden Schlangen blieb das einfach nicht aus. Doch der junge Mann fing gleich an, das persönlich zu nehmen, rempelte zurück, nannte den Mann einen Hurensohn und hob schon zum Schlag ausholend die Faust. Der Ältere war von der Masse zwar schon etwas weitergespült worden, bekam aber die Beleidigung mit, drehte sich um, sah die Drohgebärde und ließ sich nicht darauf ein. Stattdessen schaltete er schnell, griff sich die Baseball-Kappe des Heranwachsenden und warf sie drei Meter weiter in die Masse.
Schön blöd für den kleinen Agro, wusste er doch nicht, was er machen sollte: den Mann schlagen, oder seine (vermutliche nicht günstige) Baseball-Kappe in der Menschenmenge suchen. Er entschied sich für seine Kappe. Seine Kumpels bemerken die Aktion und kommentierten diese nur mit „Da hat es den Richtigen erwischt!“.
Das Verhalten des älteren Mannes ist bemerkenswert, weil selten. Kaum jemand wagt es heute noch, den Jungen Paroli zu bieten, da die Angst vorhanden ist, gleich geschlagen oder gar niedergestochen zu werden.
Herr S. sieht es ganz richtig, wenn er behauptet, dass die Angst der Alten vor den Jungen ein Problem der Gesellschaft ist. Zu lange wurde weggeschaut. Was solle man denn machen, wollte ich wissen. Am besten wäre es, so S., wenn die ältere Generation es wieder lernen würde, autoritärer zu sein. Der Jugend müssten wieder Grenzen aufgezeigt werden. Einen Monat lang jeden Fuß-auf-den-Sitz-Leger gemeinsam in die Schranken weisen, dann würde der Nachwuchs wieder anfangen zu kapieren.
Denn, nun der Bogen zu Anfang, Kinder und Jugendliche brauchen Grenzen. Gibt es diese nicht, suchen und suchen sie — was notfalls im Koma oder dem Tod enden kann.
Herr S. erzählte noch, dass bei ihm an der Schule ein Siebtklässler volltrunken im Unterricht anwesend war. Bei einer Untersuchung seiner Tasche fand man dann eine halbleere Gin-Flasche. Ein 13-Jähriger im Vollrausch. Welche Grenze wollte der „erkunden“?
Kommentare (3)
Vielleicht ist es auch nicht die Angst. Schließlich haben die Eltern dieser Jugendlichen Mitte der 80er trotz besserem Wissen zu wenig unternommen gegen Umweltverschmutzung, Kriege, Armut usw. Die Jugendlichen sind evtl. die Antwort auf eine Generation der Gleichgültigkeit (Motto: Hauptsache man Verdient genug)
Einer der Gründe, warum kaum noch jemand es wagt, aufmüpfigen Jungen Paroli zu bieten, liegt meines Erachtes auch in der Art und Weise, wie „jugendliche Gewalttäter“ medial dargestellt werden. Real ist die Gefahr,gleich geschlagen oder gar niedergestochen zu werden, in Situationen wie in den Schlangen beim Osterfeuer gering – aber die Angst vor schon bei leichte Provokation sofort gefährlich gewaltätigen Jugendlichen
speist sich nicht aus eigenen Erfahrungen, sondern, platt gesagt, aus der BILD und dem Fernsehkrimi. (Klar, es gibt Situationen, in denen es wirklich gefährlich wird, und man besser nicht den Helden spielt – aber die sind bei „Füße auf den Sitz“-Fällen eher selten.)
Also ehrlich gesagt, ich finde es genauso daneben, jemandem die Mütze vom Kopf zu reißen und in der Menge zu versenken, wie blöde Pöbeleien und Rempeleien und sonstige andere demütigende Verhaltensweisen.
Autorität? Wenn beide Seiten sich ähnlich bescheuert verhalten, die Position des Stärkeren oder durch glücklichen Zufall Begünstigten? Das kann dann ja auch leicht mal andersherum ausgehen – was wiederum zu medial verbreitbaren Vorfällen mit Verstärkung des „Feindbilds Jugendliche“ und sich noch weiter ausbreitender Angst führen…
Persönlich habe ich bislang übrigens auch eher die Erfahrung gemacht, dass ich mich durch in Selbstjustiz handelnde (männliche) Vertreter der Silberfraktion bedroht oder genötigt fühlte. etw. durch versuchtes Abdrängen auf eine sechsspurige Straße wegen Benutzung des Radfahrwegs auf der falschen Straßenseite… Wohingegen ich es auch erlebt habe, dass bei Jugendlichen ein missbilligender Blick beim Füße-aufs-Polster-legen zuweilen Wunder bewirken kann…
Insofern teile ich auch ganz entschieden die Ansicht von Herrn S., dass die Angst der Alten vor den Jungen ein Problem dieser Gesellschaft ist 😉
(Hm, wer weiß, wenn jetzt künftig alle Kinder von 8:00 – 18:00 Uhr in der Schule bleiben – und zumindest solange dem schädlichen Einfluss ihrer zur Grenzsetzung unfähigen Eltern sowie dem weiteren gesellschaftlichen Umfeld entzogen sind, wird dann alles besser?)