1987 gab es auch bei uns zuhause Unruhe. Meine Eltern empörten sich über die geplante Volkszählung – die dann nicht stattfand. Über zwanzig Jahre später gibt es kaum Widerstand gegen eine Volkszählung, oder wie es Neudeutsch heißt: den Zensus. Magere 10.000 Bürger haben dagegen geklagt und sind gescheitert. Nun rollt sie die Datensammel-Welle. Und niemand muckt.
Die taz hat sich den Fragebogen genommen und durch sehr persönliche Fragen ergänzt. Damit ausgerüstet, zusammen mit „wichtigen“ T-Shirts und schlecht gemachten Ausweisen, zog man in Berlin von Tür zu Tür und fragte, was zu fragen war. Auch hier gab es kaum Murren. Und das, obwohl nach Drogenkonsum, Häufigkeit des sexuellen Interkurses und Wahlverhalten gefragt wurde. Vereinzeltes Nachhaken, warum die Interviewer plötzlich vor der Tür stehen, wurden mit „Da hat die Post wohl geschlampt“ begründet und man bekam Einlass.
Ein gewagtes Experiment. Es zeigt, dass die Menschen heutzutage sehr bereitwillig sind, persönliche Informationen preiszugeben. Klar, wer auf dem Fratzenbuch Urlaubs- oder Partyfotos postet, mit „Places“ bzw. Foursquare und Co. jedem „Freund“ mitteilt, wo man sich gerade aufhält, wer jeden Gang zur Toilette twittert — der kann in einem vom Staat verordneten Striptease auch nicht mehr von sich geben. So ein Zensus, der ist dann egal. Macht man mit. Ja, ich nehme Drogen, rauche am Tag drei Schachteln, vögle mich jeden zweiten Abend durch fremde Betten und habe auch schon mal abgetrieben. Wissen ja eh schon alle ?
Dieser ohnehin verinnerlichten „Informationsgeber-Kultur“ hat der Staat es zu verdanken, dass sich diesmal niemand über den gläsernen Bürger aufregt. Sind wir ja eh schon. An jeder Ecke eine Überwachungskamera und im Grunde können „die“ auch jede Info über ihre Schafe herausfinden. Dafür bedarf es nicht einmal eines Zensus.
Erschreckend fand ich dann allerdings die Begründung der Befragten für ihre Bereitwilligkeit zur Kooperation. Einer der Probanden erklärte den geringen Widerstand gegen den Zensus so:
Die Zeiten haben sich geändert, heute ist nicht mehr der Staat böse, sondern eher die Wirtschaft.
Bitte? Wie naiv muss man sein, um sich so eine Trennung zurecht zu fantasieren? Da hat aber jemand nicht aufgepasst, wenn er tatsächlich eine Trennung von Staat und Wirtschaft meint zu sehen. Staat und Kirche sind (hierzulande) getrennt, ja. Aber Politik und Wirtschaft sind fest miteinander verzahnt. Das zeigt das langjährige, hartnäckige Festhalten an der Atompolitik, die Elbvertiefung, die Zuschüttung des Mühlenberger Lochs, die U4 in die HafenCity und und und ? Die Politik lässt sich von der Wirtschaft sagen, wohin sie zu steuern hat. Wie kann man da behaupten, die Wirtschaft sei böse, der Staat aber nicht?
Ich bin jedenfalls froh, dass ich (noch?) keinen Brief in meinem Postkasten hatte. Unter Umständen hätte ich vielleicht sogar die Geldstrafe auf mich genommen. Das wäre mein bescheidener Beitrag zur Abdeckung der 710 Millionen Euro Kosten gewesen.
Übrigens: Es herrscht Auskunftspflicht. Das weiß wohl mittlerweile jeder, das mag auch ein Grund gewesen sein, warum die Befragten die gefakten Zensus-Mitarbeiter in die Wohnung gelassen haben. Es ist Pflicht, also ist man hörig. Wobei ich es ja schon lustig finde, dass sich die Auskunftspflicht für den Zensus aus dem eigens dafür geschaffenen Zensus-Gesetz erklärt ?
Die Auskunftspflicht ergibt sich aus §18 Absatz 3 ZensG 2011 in Verbindung mit §15 Absatz 1 BStatG.
Und wer hätte gedacht, dass es ein Bundesstatistikgesetz (BStatG) gibt? *tss*
Kommentare (2)
Beim ersten Überfliegen des Musterfragebogens stellte sich mir folgende Frage:
WAS genau ist an den Fragen so intim, dass du sie nicht beantworten möchtest? Ich persönlich finde da keine Auskunft, die ich dem Staat nicht auch schon an anderer Stelle, insbesondere beim Arbeitsamt, gegeben habe.
Oder geht es eher um das Prinzip?
Vielleicht ist „das Volk“ auch nur einfach deswegen so auskunftsfreudig, weil die erteilten Auskünfte so banal sind?
Sicher hat sich vieles geändert, doch leider kommt die Politik den Anforderungen der Zeit nicht mehr nach, wie man traurig an den entsprechenden Gesetzen rund um das Internet erkennen muss.