Denke ich an Hamburg — und nicht nur ich —, dann denke ich an den Hafen. Mein Vater hat noch damals neben seinem normalen Beruf morgens im Hafen geschuftet und Säcke mit Waren geschleppt. Das ging früher. Heute ist der Hafen sehr weit automatisiert. Vorbei mit der Hafenarbeiter-Romantik. Bei Hafen denkt man aber auch — ebenfalls romantisch angehaucht — an Seefahrer und Matrosen. Die sieht man ebenfalls nicht mehr allzuoft in den Straßen.
Aber in der Speicherstadt, da kann man einen Hafenarbeiter und Seefahrer sehen. Der trägt Gedichte vor.
Im Spicy’s Gewürzmuseum geht es los. Ein kleiner Sekt oder Orangensaft zum Empfang, man sammelt sich in den Räumlichkeiten dieses kleinen Museums, in dem man die Ausstellungsstücke ausdrücklich anfassen und beschnuppern darf. Dann kommt die Chefin, Viola Vierk, herein und gibt einen kleinen, sehr informativen Vortrag über Gewürze. Da gingen einem schon mal die Ohren auf, was es doch alles Spannendes zu erfahren gibt.
Es folgte ein ehrwürdiger Hamburger Kaufmann mit Frack, Zylinder und Gehstock. Der Schauspieler Tobias Brüning versteckt sich hinter dem Zeitreisenden, der die Besucher auf einen kleinen Spaziergang und eine Reise ins 19. Jahrhundert mitnimmt. Das nennt sich „Hamburger Kaufmann-Transfer“, der die Gäste zum nahe gelegenen Brook führt. Rein in die Barkasse und gemächlich schippert man durch die abendliche Speicherstadt. Bei gutem Wetter leuchten die Backsteinbauten golden und prächtig. Vom Wasser aus ist das alles sehr imposant und anschaulich. Wer Hamburg noch nicht liebt — bei dem Anblick muss man sich in den alten Teil der Stadt einfach verlieben.
Kurz nach der Abfahrt steht Brüning wieder vor den Zuhörern, diesmal als Hafenarbeiter und Matrose verkleidet. Er erzählt flapsig und amüsant seine Geschichte, um geschickt auf „seinen alten Freund“ Hans Gustav Bötticher zu kommen. Was, den kennen Sie nicht? Vielleicht unter seinem Pseudonym Joachim Ringelnatz?
Gut eineinhalb Stunden tuckert die Barkasse kreuz und quer durch die Speicherstadt, man sieht alte Fassaden und neue. Die Sonne geht hinter dem neuen Spiegel-Gebäude unter und nebenbei erzählt Brüning Gedichte und Reime von Ringelnatz. Das macht er ordentlich und den herrlich komischen Stücken Ringelnatz‘ entsprechend. Und was hat der Schriftsteller, Kabarettist und Maler Ringelnatz für wunderbare Stücke geschrieben! Vieles handelt von dem guten Freund Kuttel Daddeldu. Aber auch „Klassiker“ werden vorgetragen wie das berühmte „Die Ameisen“, wo der Großteil des (doch recht betagten) Publikums begeistert mitsprach. Es gab „Die Schnupftabaksdose“, „Ein männlicher Briefmark erlebte“, „Bumerang“, „Übergewicht“ — aber auch längere Stücke wie „Ein Nagel saß in einem Stück Holz“ oder natürlich „Vom Seemann Kuttel Daddeldu“. Da die EM vor der Tür stand gab es auch „Fußball (nebst Abart und Ausartung)“, als die Sonne dann beinahe hinter dem Horizont verschwunden war, kamen die Liebensgedichte dran, wie z.B. „Ich habe dich so lieb“. Natürlich gab es noch viel mehr Stücke, die vorgetragen wurden.
Eine bunte Mischung von Ringelnatz-Gedichten, charmant vorgetragen, eingebettet in ein rundes Programm. Abgerundet und aufgelockert wurde die Lesung von kleinen Gedichten anderer Schriftsteller, so dass am Ende ein wahrlich sehr komischer und amüsanter Abend dabei herauskam. Den Wahl-Berliner Ringelnatz sollte man mal gelesen haben, so lustig ist der. Oder man lässt ihn sich auf einer Hamburger Barkasse vortragen.
Wer also nicht eine staubtrockene Geschichtsbarkassenfahrt erleben möchte, dem sei „Mit Kuddeldaddeldu auf große(r) Fahrt“ ans Herz gelegt. Ringelnatz‘ Dichtkunst ist leicht, lustig und nur allzu oft rotzfrech, manchmal ins Ordinäre abdriftend. Da fällt mir „Kuttel Daddeldu erzählt seinen Kindern das Märchen vom Rotkäppchen“ als Beispiel ein.
Nächste Fahrt ist am 12.6.12.